Auf dem OP-Tisch sind alle gleich? Leider nein. Die Gendermedizin befasst sich damit, dass das Geschlecht Auswirkungen auf Symptome, Verlauf und Therapie von Krankheiten hat. Prof. Dr. med. Cathérine Gebhard ist Expertin auf dem Gebiet und arbeitet als Leitende Ärztin Interventionelle Kardiologie im Kantonsspital Baden. Sie zeigt auf, wo es in der Medizin noch blinde Flecken gibt.
Stimmt es, dass sich ein Herzinfarkt für eine Frau ganz anders anfühlt als für einen Mann?
Das ist richtig. Frauen können zwar auch die typischen Symptome eines Herzinfarktes zeigen wie ein Druckgefühl auf dem Brustkorb, sie haben jedoch öfters als Männer unspezifische Symptome wie Übelkeit, Bauchschmerzen oder Schwindel, bei denen man nicht als erstes an einen Herzinfarkt denkt. Die Gründe dafür liegen in der Biologie aber auch in den unterschiedlichen Verhaltensweisen von Männern und Frauen. Frauen rufen zudem im Schnitt später um Hilfe, werden deswegen also häufiger zu spät behandelt als Männer. Ich kenne zum Beispiel eine Herzinfarktpatientin, die zwölf Stunden gewartet hat, bis sie den Notruf gewählt hat.
Können Sie weitere Beispiele nennen, die zeigen, warum es Gendermedizin braucht?
Depressionen, Magersucht oder Osteoporose werden bei Männern viel seltener diagnostiziert, weil sie als klassische Frauenkrankheiten gelten. Oder das Beispiel einer jüngst erschienenen Studie zu einem Herzmedikament im renommierten «The New England Journal of Medicine» an der nur 15 Prozent Frauen mitgemacht haben. Dass das Medikament bei Frauen nicht gewirkt hat, wurde nur in einem Nebensatz erwähnt. Allgemein sind Frauen in Medikamentenstudien oft unterrepräsentiert.
«Frauen sind in Medikamentenstudien oft unterrepräsentiert»
Das nennt sich «Gender Data Gap», oder?
Ja, den «Gender Data Gap» gibt es in unterschiedlichen Fachbereichen. Der Begriff beschreibt Daten- und Wissenslücken, die klar ein Geschlecht betreffen. Überwiegend sind hier Frauen im Nachteil. In der Medizin kann das lebensbedrohlich sein.
Der Männerkörper wird in der Medizin also zur Norm. Was bedeutet das für Frauen?
Die Verteilung und der Abbau eines Medikamentes im Körper hängen von Grösse, Gewicht, Wasserhaushalt, Nierenfunktion sowie dem Anteil des Muskel- und Fettgewebes ab. Bei all diesen Faktoren unterscheiden sich Frauen und Männer. Frauen sind durchschnittlich leichter und würden oft von einer geringeren Dosis eines Medikaments profitieren. Da Medikamente aber überwiegend an Männern getestet werden, fehlen diese Informationen für Frauen. Die Folge ist, dass Frauen rund doppelt so oft Nebenwirkungen haben wie Männer.
Wieso wissen viele nichts davon?
Die Gendermedizin steckt in der Schweiz noch in den Kinderschuhen. Hier liegt ganz viel Aufklärungsarbeit vor uns. Dabei setzen wir auf drei Pfeiler: Öffentlichkeitsarbeit, Integration der Gendermedizin ins Studium und Weiterbildung für Gesundheitspersonal und Forschende in einem schweizweiten Weiterbildungsstudiengang. Aber auch die Gespräche mit der Industrie, welche die Medikamente entwickeln, fehlen noch weitestgehend. Das wäre dringend notwendig, denn der «Gender Data Gap» belastet auch unser Gesundheitssystem. Zentral ist zudem, dass Forschende für ihre Studien genügend Frauen rekrutieren.
Kantonsspital Baden
Das Kantonsspital Baden gehört mit rund 3’000 Mitarbeitenden zu den grössten Arbeitgebern der Region. Die Geschichte des Spitals reicht bis ins Jahr 1349 zurück, der heutige Bau wurde 1978 eingeweiht. Aktuell ist der Rohbau für das neue Spital fertiggestellt. Lesen Sie alle Informationen dazu auf neubau.ksb.ch.
Sie arbeiten sowohl im Kantonsspital Baden als auch an der Universität Zürich, durchfahren also regelmässig die gesamte Limmatstadt.
Ich sehe Parallelen zwischen meiner Arbeit und der Limmatstadt. Die Gendermedizin ist ein diverses Fach und wächst erst zusammen – ähnlich wie die Region. Allein im stillen Kämmerchen vor sich hin zu arbeiten bringt nichts: Vernetzung ist entscheidend.
Das Gespräch führte Sara Lisa Schäubli, Projekt- und Redaktionsleiterin Limmatstadt AG.
Kopf der Woche
In dieser Rubrik interviewen wir in unregelmässigen Abständen unsere Aktionäre und Netzwerkpartnerinnen zu ihrem Beruf und ihrer Berufung. Wenn auch Sie Teil der Limmatstadt werden wollen, klicken sie hier.
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