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«Die Zukunft gehört den Netzwerken»

Auch die Limmattalbahn begann als Utopie. Dunja Kovári-Binggeli steht an der Haltestelle in Zürich-Altstetten. Foto: Severin Bigler

Utopien würden voraussetzen, dass man sie vom Menschen aus denke, sagt Stadt- und Regionalexpertin Dunja Kovári-Binggeli. Nur dann seien sie realistisch. Ein Gespräch über mutige Ideen im Limmattal.

Interview: Sara Lisa Schäubli, Fotos: Severin Bigler

Jede Realität beginnt mit der Idee, oder?

Es ist wichtig, Visionen zu haben – wichtiger denn je. Diese Visionen müssen zwar im Grundgerüst robust sein, aber sonst maximal flexibel. Denn wir müssen Lust und Freude am Wandel haben und ihn antizipieren wollen. Wenn wir dafür nicht bereit sind, dann ist der nächste Halt für die Schweiz Mittelmass.

Wer bewahrt, tut das oft aus einem Sicherheitsbedürfnis.

Absolut. Aber wie wir bei uns in der Firma sagen: «Relax, it’s only uncertainty.» Lernen, mit der Ungewissheit umzugehen und uns dadurch nicht völlig bedroht zu fühlen, ist essenziell. Dabei werden wir allerdings immer wieder auf bewahrende «Königreiche» treffen wie zum Beispiel in der Verwaltung.

Visionen sind wichtig, sagen Sie. Was braucht es als Nächstes?

Wir müssen möglichst viele Menschen von der Vision begeistern. Ich glaube an die «Local Heroes». Das sind ortsverbundene Menschen, die bereit sind, mit ihrem Netzwerk den Wandel voranzutreiben. Wenn Visionen am Schluss nicht von der Breite getragen werden, werden sie auch nicht Realität.

Dafür müssen wir zusammenarbeiten.

Die Zukunft gehört den Netzwerken! Strukturen dürfen nicht festgefahren sein. Sie müssen fliessender, integraler und interdisziplinärer werden. Ein Beispiel: Wenn ich in der Stadt Zürich samstags ein Päckli bei der Post abholen will und nicht bis elf Uhr angestanden bin, bekomme ich das nicht mehr. Aber auf dem Land ist die Poststelle in einem Volg, und ich kann mein Päckli die ganze Woche über bis 21 Uhr abholen. Was ich damit sagen will: Wenn du ausserhalb vom Zentrum bist, musst du kreativ werden und neue Kooperationen eingehen. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und so weiter dürfen keine Berührungsängste haben, sie müssen zusammenarbeiten.


«Wenn Visionen am Schluss nicht von der Breite getragen werden, werden sie auch nicht Realität.»


Das ist in dem Fall eine Chance für die Agglomeration.

Da wäre ich vorsichtig. «Wer vom Land träumt, wird keine gute Stadt bauen, das gilt erst recht für die Agglomeration», hat Daniel Kübler, Direktionsmitglied vom Zentrum für Demokratie Aarau gesagt. Für die Agglomeration geht es in meinen Augen darum, eine eigene Identität zu finden.

Seit letztem Dezember fährt die Limmattalbahn durch die Region. Von der Idee bis zur Realität hat es über 20 Jahre gebraucht. «Ist doch nur ein Tram!», mögen manche über die Limmattalbahn sagen. «Tram in die Zukunft», titeln andere. Was meinen Sie?

Das Limmattal ist bekannt für seine Infrastrukturen. So jetzt auch für eine mehr: die Limmattalbahn. Das Interessante an der Limmattalbahn sind sicher die 15-Minuten-Nachbarschaften, die rund um die Haltestellen entstehen werden. Das Potenzial sehe ich aber woanders. Die Infrastrukturen der Zukunft sind erstens die sogenannte blau-grüne Infrastruktur, also alles, was mit Begrünung, Biodiversität und Stadtklima zu tun hat, und zweitens die digitale Infrastruktur. Wir haben nun die Limmattalbahn, und das ist super. Aber jetzt Pionierin zu werden in den Infrastrukturen der Zukunft, das ist die grosse Chance.

Was ist Ihre blau-grüne Vision fürs Limmattal?

Im Limmattal gibt es zwei sogenannte Land ­ schaftsspangen: die erste zwischen Dietikon und Spreitenbach auf der einen sowie Oetwil an der Limmat und Würenlos auf der anderen Seite der Limmat. Die zweite zwischen Wettingen und Würenlos sowie Neuenhof und Killwangen. Das sind Freiräume mit wenig Siedlungselementen. Dort kommen Landwirtschaft, Kiesabbau, Freizeit, Naherholung und Natur zusammen. Und eigentlich sind das die grossen Parks des Limmattals. Es gibt schon Visionen für diese Parks, und ich finde, man sollte daraus möglichst attraktive, diverse Gebiete machen. Ich denke zum Beispiel an einen «Esswald». Das ist, genau wie es der Name sagt, ein Wald, in dem man alles essen kann: Früchte, Nüsse, Beeren, Kräuter und Gemüse. In Zukunft gäbe es dann vielleicht auch eine Limmattalbahn-Haltestelle mitten im Park.

Und eine digitale Utopie?

Räumlich und zeitlich flexible Lösungen sind mit der Digitalisierung gar kein Problem. Eine Strasse könnte zum Beispiel tagsüber für den Verkehr offen sein, und ab 19 Uhr und am Wochenende wird sie gesperrt. Dann gehört der Platz den Anwohnerinnen und Anwohnern. Aber eine solche Lösung widerspricht aktuell noch unserem Planungssystem.


«Wir haben nun die Limmattalbahn, und das ist super. Aber jetzt Pionierin zu werden in den Infrastrukturen der Zukunft, das ist die grosse Chance.»


Können Sie eigentlich Ihre eigene Vision beschreiben?

Eine Vision kann ganz einfach sein. Zum Beispiel: «Wir wollen eine lebenswerte, gesunde, nachhaltige Entwicklung, bei der der Mensch im Fokus steht. Und wir wollen den Wandel als Chance verstehen.» Den Wandel zu gestalten, kann ein richtiger Sport sein! Am Wandel antizipieren ohne Spielfreude ist schwierig.

Also dann spielen wir doch eine Runde «Utopie oder Realität» zusammen. Sie haben die Parks schon angesprochen. Der Rangierbahnhof soll ein grosser Park werden, ähnlich dem Central Park in New York. Utopie oder Realität?

Die Logistik wird immer ihren Stellenwert haben. Aber sie sollte für die Bevölkerung zugänglich sein. Ich denke dabei zum Beispiel an die Skipiste auf der Kehrichtverbrennungsanlage CopenHill in Kopenhagen. Oder ans deutsche Entsorgungszentrum Leppe. Dort haben sie aus einem riesigen Abfallberg ein richtiges Erlebnis gemacht – mit einer Pippilotti-Rist-artigen Installation und Rutschbahnen. Daneben haben sich Spin-offs und Fachhochschulen angesiedelt. Auf dem Rangierbahnhof kann ich mir sehr gut ein zukünftiges hochmodernes Logistikzentrum mit hohem Hightech-Faktor vorstellen, kombiniert mit Freizeit und Naherholung, wie ich das bereits bei den Landschaftsspangen-Parks erwähnt habe. So etwas schliesst sich gegenseitig nicht aus.

Auf dem Niderfeld in Dietikon wird die Erlebnisausstellung «Phänomena» mit einem künstlichen Teich, einem Aussichtsturm und einer Million Besucherinnen und Besuchern stattfinden. Utopie oder Realität?

Solche Events sind gut für die regionale Identität, wie zum Beispiel auch die Badenfahrt. An den «Bilbao-Effekt» glaube ich nicht. Also dass die «Phänomena» so eine magnetische Anziehungskraft entwickelt, dass die ganze Region erblüht. Dafür braucht es echt viel. Was man auf jeden Fall schaffen muss, ist, dass die Ausstellung eine regionale Geschichte wird.

Ein letztes Beispiel: Die ganze Region wird durch eine Veloschnellroute verbunden. Utopie oder Realität?

«Veloschnellroute» finde ich so einen faden Begriff. Es gibt das Konzept der «Fitness City», von der ich glaube, dass sie gut zum Limmattal passen würde. Die Leute wollen ihre 10 000 Schritte machen. Das ist ziemlich schwierig. Je nachdem wie eine Stadt gestaltet ist, animiert sie zum Bewegen oder nicht. In Budapest gibts zum Beispiel rote Laufbahnen durch die Stadt. Sie führen an Sehenswürdigkeiten vorbei, links und rechts stehen Trinkbrunnen. Das nenne ich Kreativität.

Das klingt total machbar.

Die meisten Ideen sind gar nicht so unrealistisch. Also das Wenigste von dem, was ich erzähle, ist utopisch.

Ja, weil Ihre Utopien vom Menschen ausgehen.

Wir müssen vom Menschen und seinen Bedürfnissen aus denken. Wir müssen neugierig bleiben. Eine Kultur des Wandels ohne Neugier ist kaum realistisch. Und wir müssen einfach ... ausprobieren


Zur Person

Dunja Kovári-Binggeli ist Diplom-Ingenieurin sowie Gründerin und Mitinhaberin von sa_partners, einer Zürcher Agentur für Städtebau und Planung. Sie studierte Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin und TU Wien. Von 2010 bis 2020 war sie Planungsleiterin des Verbands Baden Regio.


Der Text erschien in der Mai-Ausgabe 2023 von 36 km – Magazin für die Limmatstadt.