Die Schweiz steuert auf einen enormen Arbeits- und Fachkräftemangel hin. Ältere Arbeitnehmende können dabei helfen, diesen Defiziten entgegenzuwirken. Auch in Limmattaler Unternehmen hat der Erfahrungsschatz von Mitarbeitenden über 50 einen hohen Stellenwert.
Text: Martin Gollmer, Fotos: Severin Jakob
Die Zahlen alarmieren Arbeitgeber, Arbeitsmarktexperten und Ökonominnen: Rund 30 Prozent der Arbeitskräfte in der Schweiz sind heute über 50 Jahre alt. Viele von ihnen – die in den 1950er- und 1960er-Jahren geborenen sogenannten Babyboomer – werden den Arbeitsmarkt bis Ende dieses Jahrzehnts verlassen. Doch es rücken nicht gleich viele jüngere Arbeitskräfte nach. Die Zuwanderung aus dem Ausland stagniert, gleichzeitig wächst die Wirtschaft. Die Unternehmen haben die pandemiebedingte Wachstumskrise überwunden und schaffen wieder Stellen. Deshalb tut sich eine Lücke auf: Studien gehen davon aus, dass in der Schweiz im Jahr 2030 rund eine halbe Million Arbeitskräfte fehlen werden – darunter besonders viele Fachkräfte, die über einen Berufs- oder Hochschulabschluss verfügen. Doch man bleibt nicht untätig.
Initiative des Arbeitgeberverbands
Der Schweizerische Arbeitgeberverband hat das Problem erkannt. Er hat verschiedene Initiativen gestartet, mit denen erwerbslose Menschen in den Arbeitsmarkt integriert oder unterbeschäftigte Personen zu höheren Arbeitspensen animiert werden sollen. Zielgruppen sind Jugendliche, Ältere, Mütter, gesundheitlich Beeinträchtigte sowie anerkannte, vorläufig aufgenommene Flüchtlinge. Das Bundesamt für Statistik hat berechnet, dass in diesen Personengruppen ein Potenzial von 300 000 Vollzeitstellen schlummert, würden und könnten sie denn (mehr) arbeiten.
Arbeiten mit Bogenkarriere
Die jüngste Initiative des Arbeitgeberverbands heisst «focus50plus». Sie wurde Ende Januar 2022 offiziell gestartet. «Bei älteren Personen besteht ein grosses Arbeitskräftepotenzial», sagt Simon Wey, Geschäftsführer der Initiative und Chefökonom des Arbeitgeberverbands. Um das Potenzial auszuschöpfen, müsse etwa verhindert werden, dass reifere Arbeitskräfte früh aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden – etwa durch Kündigung, weil sie die von ihnen erwartete Leistung nicht mehr erbringen oder weil sie sich frühpensionieren lassen.
Für ein Umdenken braucht es, laut Wey, beide Seiten. Arbeitnehmerinnen und -nehmer sollten den Mut haben, eigene Bedürfnisse wie zum Beispiel ein reduziertes Pensum anzusprechen. Es kann dann durchaus auch im Interesse von Arbeitgeberinnen und -gebern sein, solchen Leuten passende Angebote zu unterbreiten. Zum Beispiel im Rahmen von sogenannten Bogenkarrieren, wo sie beispielsweise Verantwortung abgeben und/oder zeitlich kürzertreten können. «Nicht wenige von ihnen wollen weniger und flexibler, dafür länger arbeiten», ist Wey überzeugt. Zudem müsse dafür gesorgt werden, dass Personen, die das Pensionsalter 65 erreichen, noch weiterarbeiten können. Es sei deshalb wichtig, dass Arbeitgeber mit Personen, die kurz vor der Pensionierung stehen, frühzeitig ins Gespräch kommen.
Mit der Initiative «focus50plus» will der Arbeitgeberverband laut Wey unter anderem den Erfahrungsaustausch zwischen Unternehmen zum Thema «ältere Arbeitskräfte» fördern. Sie sollen für die Probleme und Chancen, die damit verbunden sind, sensibilisiert werden. Zentral ist für Wey dabei, die individuellen Geschichten der betroffenen Menschen sichtbar zu machen. Der Verband möchte deswegen durch Interviews mit Betroffenen zeigen, wie Lösungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer aussehen können. Die Sichtbarkeit von neuen Arbeitsmodellen helfe beim Abbau vom Stigma «Abstellgleis», sagt Wey.
Der Wert von Arbeitskräften über 50
Den Wert älterer Arbeitskräfte haben auch Unternehmen im Limmattal erkannt. «Sie bringen viel Fachwissen mit, strahlen meistens Gelassenheit aus dank reicher Lebens- und Berufserfahrung und eignen sich oft als Coach oder Mentor für jüngere Arbeitnehmende», sagt etwa Petra Tscharner, Leiterin Human Resources am Spital Limmattal in Schlieren.
Ähnlich äussert sich Tanja Santner-Steinebrunner, Head of Human Resources bei der Badener IT-Dienstleisterin Aveniq: «Das Alter ist bei uns kein Kriterium. Im Gegenteil: Ältere Personen haben Lebens- und Berufserfahrung, sie verfügen über Wissen, das Jüngere oft noch nicht haben, und sie können eine Rolle als Spezialist oder als Begleiter für Jüngere übernehmen.»
«Leute über 50 sind für mich nicht alt, sie sind agil und innovativ», weiss auch Joachim Lorch aus Erfahrung. Lorch ist CEO der im Baugewerbe tätigen Hächler-Gruppe in Wettingen. Lorch führt als Beispiel seinen Mitarbeiter Ernst Wyler an, der im Alter von 54 Jahren nach einem Burn-out eingestellt wurde, seither verschiedene Kaderpositionen innehatte und jetzt mit 63 Jahren eine neue digitale Dienstleistung für die Gruppe entwickelt.
Die Mischung machts
Bei aller Wertschätzung für ältere Arbeitskräfte weisen Tscharner, Santner-Steinebrunner sowie Lorch darauf hin, dass für den Erfolg eines Teams im Unternehmen eine ausgeglichene Mischung aus Jung und Alt wichtig ist. «Eine gute Altersdurchmischung ist entscheidend. So sind in einem Team immer Leute vorhanden, die auf dem neuesten Stand sind, und solche, die Erfahrung haben», meint Tscharner. «Wir beschäftigen sowohl Lernende wie auch Leute über 60», erklärt Santner-Steinebrunner. «Auf die richtige Kombination kommt es an», sagt auch Lorch: «Wir versuchen, jugendliche Unbeschwertheit und Kreativität mit Erfahrung zu verbinden», und er fügt an: «Erfahrung ist ein Schatz, den es zu nutzen gilt.»
Flexible Zeiten und Pensen
Die befragten Limmattaler Unternehmen experimentieren noch wenig mit neuen Arbeitsmodellen, um ältere Arbeitskräfte im Unternehmen zu halten. Sie setzen auf bewährte Methoden: Sie unterstützen ihre Mitarbeitenden mit Weiterbildungen und bieten ihnen flexible Arbeitszeiten an. «Das Spital Limmattal ist bekannt dafür, dass es sein Personal mit Weiterbildungen fördert. So bleiben die Leute immer auf dem neuesten Stand, auch wenn sie schon etwas älter sind», sagt Tscharner.
«Um attraktiv zu sein, sind wir sehr flexibel bezüglich Arbeitszeiten und -pensen: Wir ermöglichen Teilzeitarbeit wie auch den Kauf zusätzlicher Ferien», berichtet AveniqPersonalchefin Santner-Steinebrunner. «Dank ihrer umfangreichen Erfahrung arbeiten ältere Mitarbeitende in spannenden Projekten mit und übernehmen entsprechende Verantwortung.»
Die Hächler-Gruppe wiederum hat ein Modell für spezielle Aufgaben entwickelt, das es für Leute über das Pensionsalter 65 hinaus attraktiv macht, im Unternehmen zu bleiben oder neu dazuzukommen: «Sie können selbst entscheiden, wann sie arbeiten oder ihre Freizeit geniessen wollen», erläutert CEO Lorch. Zurzeit sind zwei Personen in diesem Versuchsmodell für die Hächler-Gruppe tätig. Auch bei Aveniq können Miarbeitende über das Alter 65 hinaus arbeiten, wie Santner-Steinebrunner erklärt. Das Spital Limmattal prüft solche Möglichkeiten laut Tscharner «von Fall zu Fall».
Obwohl sich die befragten Unternehmen intensiv auch um ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bemühen, kennen sie den eingangs beschriebenen Arbeits- und Fachkräftemangel schon heute. Alle haben offene Stellen und Schwierigkeiten, sie zu besetzen. Das Spital Limmattal habe zeitweise Mühe, geeignete Leute zu finden, sagt Tscharner. Die Suche nach IT-Fachkräften stelle Aveniq vor Herausforderungen, berichtet Santner-Steinebrunner. An gute Handwerker und technische Kaderleute heranzukommen, sei sehr schwierig, aber mit Kreativität möglich, erklärt Lorch von der Hächler-Gruppe. Fazit: Die Personalsuche bleibt schwierig. Unternehmen tun also gut daran, das Potenzial von Arbeitskräften 50 plus zu erkennen und sich an neue Arbeitsmodelle zu wagen.
Vernetzen
Initiative focus50plus Der Schweizerische Arbeitgeberverband unterstützt Firmen bei einem zukunftsgerichteten Generationenmanagement und bringt sie mit Dienstleistern zum Thema in Kontakt.
FocusFuture bietet Workshops für Menschen in Veränderungsprozessen – vor allem kurz vor oder nach Erreichen des Pensionsalters.
Loopings unterstützt Menschen ab der Lebensmitte dabei, ihre berufliche Zukunft zu gestalten, und vernetzt Firmen bei der Entwicklung zukunftsweisender Arbeitsmodelle.
Podcast stefanundstefan Seit der Fachkräftemangel zugenommen hat, sehen sich vermehrt auch KMUs mit demThema Employer Branding konfrontiert. Wie sollen kleinere Unternehmen an das Thema rangehen? Stefan Vogler, Studiengangsleiter CAS Marketing Communications HWZ, und Stefan Eggenberger, Leiter Center for Communications HWZ, sind dieser Frage in ihrem Podcast nachgegangen.
Der Text erschien in der Mai-Ausgabe 2022 von 36 km – Magazin für die Limmatstadt.